
ODER: „MS“ STEHT NICHT FÜR „MUSKELSCHWUND“!
Na, liegst du flach oder hast du deinen jährlichen grippalen Infekt schon hinter dir? Meine letzte fette Erkältung ist schon ein paar Monate her, aber so habe ich´s hoffentlich für diesen Winter schon hinter mir… Ich weiß trotzdem noch ziemlich genau, wie erbärmlich und schwach ich mich mit Schüttelfrost und Gliederschmerzen durch die Gegend schleppte; ich wollte einfach nur noch schlafen. Eigentlich sollte ich das viel häufiger tun, aber in solchen Situationen denke ich oft an Menschen, die nicht nächste Woche wieder gesund sind. Die eine unheilbare Krankheit haben. Wie müssen die sich fühlen, unabhängig von allen Schmerzen und begleitenden Symptomen? Ist das Leben mit solch einer Diagnose vorbei!? Dreht sich dann Alles nur noch um die Krankheit, hält das Leben dann nichts Schönes mehr bereit!? Ja, so eine Krankheit kann Einiges verändern, Pläne durchkreuzen, Vieles zerstören… Aber sie kann auch eine Chance bedeuten, wie die Geschichte von Maren Hirschberg aus Rüthen-Kallenhardt zeigt:
Der Weg zur Diagnose
Für jeden wäre die Diagnose „MS“ (Multiple Sklerose) sicherlich ein riesengroßer Schock! Denn „MS“ ist kein Schnupfen, „MS“ ist eine unheilbare Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Multiple Sklerose tritt entweder in sogenannten Schüben auf oder wird schleichend schlechter. Da die „MS“ bei jedem Betroffenen völlig anders verläuft, ist die Diagnostik auch nicht ganz leicht: Mehr als zwei Monate musste ich in Krankenhäusern und bei Ärzten verbringen und zahlreiche Untersuchungen über mich ergehen lassen, doch am 02. Juli 2013 hatte ich Gewissheit: ich habe „Multiple Sklerose“.
Vielleicht fällt es dem Ein oder Anderen schwer zu verstehen, aber für mich war die Diagnose trotzdem eine Erleichterung! Das Kind hatte endlich einen Namen… Mir war doch längst klar, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Seit der sechsten Klasse begleiteten mich Seh- und Konzentrationsstörungen, irgendwie komische Schmerzen und immer mal wieder ein Kribbeln in den Armen und Beinen. Doch alle Ärzte haben mich wieder nach Hause geschickt; ich war noch sehr jung und hatte laut Aussagen der Ärzte „Nur keine Lust auf die Schule“, denn die Symptome sind häufig in den Klausurphasen aufgetreten und waren nach ca. 6 Wochen spurlos verschwunden…
Es wurde auch mit Beginn der Ausbildung nicht besser, aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und die Symptome gehörten nun einfach vor Klausurphasen dazu. Nach Abschluss der ersten kaufmännischen Ausbildung wollte ich noch eine zweite Ausbildung zur Altenpflegerin machen, doch nach den ersten eineinhalb Jahren und den immer schlimmer werdenden Symptomen, sagte meine Mutter, die selber an MS erkrankt ist, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Zu dem Zeitpunkt kribbelte meine komplette linke Körperseite; es fühlte sich an wie Millionen von Ameisen im Körper. Ich war weder in der Lage, einen Stift zu halten, noch irgendwie über eine „längere“ Zeit auf einem Stuhl zu sitzen. Auch das Laufen wurde immer schlechter. Meine Mutter war schon von Anfang an sicher, dass ich irgendeine Erkrankung habe; aber sie wollte es auch nicht wahrhaben, das es die „MS“ ist, an der sie selbst ja auch leidet. Denn normalerweise ist MS nicht vererbbar…
Die Konsequenzen
Mit Anfang 20 möchte niemand sich in einem Sanitätshaus irgendwelche Hilfsmittel aussuchen. Doch für mich war ganz schnell klar, dass ich damit meinen Alltag weiterhin alleine meistern kann. Für mich ist Unabhängigkeit nämlich das Wichtigste im Leben. Egal ob mit Rollstuhl oder Rollator – die Hauptsache ist, ich kann meine Pferde ALLEINE Versorgen.
Leider gab es in der Zeit auch echt unangenehme Situationen: Im Sanitätshaus wurde ich gefragt, warum es denn unbedingt der ultraleichte „High-Tech-Rollator“ für meine Oma sein muss; im Krankenhaus dachte eine Krankenschwester sogar aufgrund meiner Gangart, ich wolle betrunken einen Rollator auf die Station bringen; auch mit einem Rollstuhl ist man in gewissen Situationen alleine echt aufgeschmissen, denn man braucht von vielen aus der heutigen Generation offensichtlich nicht erwarten, dass sie einem helfen… Das Wichtigste ist, jeden Tag in vollen Zügen zu genießen, denn ich glaube, wenn man sich hängen lässt, bleibt man schnell an Hilfsmittel gebunden.
Für mich war der Umgang mit Hilfsmitteln in der Öffentlichkeit nach den unangenehmen Vorfällen alles andere als einfach. Doch mein Bruder, mein Freund und meine Familie haben mir immer wieder die Angst genommen. Ich bin ja kein anderer Mensch, nur weil die Beine mal nicht so funktionieren, wie sie sollen. Leider kommen einige Personen in meinem Umfeld nicht damit zurecht, dass ich an einem Tag gefühlt zehn Kilometer laufen kann und am nächsten Tag den Rollstuhl brauche.
Und ich habe auch einiges aus solchen unschönen Situationen gelernt: Wenn nicht mal Fachpersonal meine Situation richtig einschätzt, wie kann ich das dann von „normalen“ Leuten erwarten!? Super ist, wenn Jemand einfach fragt, was mit mir los ist; ich bin da ganz offen und sogar dankbar, wenn ich über die „MS“ aufklären kann. Doch was gar nicht geht, doofe Sprüche oder mitleidige Blicke! Wozu brauche ich Mitleid; ich bin ein ganz normaler Mensch, wie jeder andere auch, nur eben mit „MS“.
Die Therapie
Klar, auf rein medizinischer Ebene kann mir schon sehr geholfen werden. Wenn ich einen Schub bekomme, werde ich stationär für ein paar Tage in einer schönen Klinik im Sauerland aufgenommen und bekomme dann meistens eine Cortison-Stoßtherapie. Das bedeutet, dass ich über drei bis fünf Tage jeweils morgens eine Infusion mit 1000 mg Cortison bekomme. Außerdem gehören auch Physio- und Ergotherapie, Wassergymnastik, Training an einer Kletterwand, Laufbandtraining, Logopädie, Entspannungsmethoden, etc. dazu. Diese ganzen Therapien dienen dazu, alle Funktionen im Körper weiter fördern oder wieder zu erlangen.
Auch, dass mir die Rente bewilligt wurde, wenn auch zunächst nur für dreieinhalb Jahre, ist eine enorme Entlastung für mich! Die Arbeit war so anstrengend, dass irgendwann der Tag für mich nur noch aus Schlafen und Arbeit bestand. Selbst am Wochenende brauchte ich die Zeit zum Schlafen und Ausruhen, um wieder Kraft für die Woche zu sammeln!
Freunde treffen, auf Parties, einen Kinoabend oder ein gemütlicher Ausritt durch die Sauerländer- Waldlandschaft – das war einfach nicht mehr möglich! Ein echter Teufelskreis… Das liegt am Müdigkeitssyndrom „Fatique“, das die „MS“ häufig begleitet. Man schläft elf Stunden am Stück, steht auf und denkt: Wow, bin ich fit, heute kann ich alles schaffen, was ich mir vornehme; doch nach der kleinsten Anstrengung ist man so müde und erschöpft, dass man sofort wieder eine Pause von zwei bis drei Stunden machen muss.
Seitdem ich mir aber meine Zeit selbst einteilen kann, gebe ich nun ein paar Kindern Reitunterricht, dabei fühle ich mich einfach wohl. Die Arbeit mit den Kindern und auch mit den Pferden, ist für mich immer Balsam für die Seele.
Oft gehe ich auch in Alten- und Krankenpflege-Schulen und berichte dort über das Leben mit „MS“. Durch meine offene Umgangsweise mit dieser Krankheit bin ich seit letztem Jahr auch ein Teil der Kampagnen von „Trotz MS“. Doch meine eigentliche Therapie ist das Sauerland mit allem, was für mich dazu gehört:
Die Natur, die Tiere und natürlich die Menschen
Am liebsten erkunde ich die Natur mit meinen drei Pferden Sammy, Bobo und Elsa. Sam ist für mich mein Allroundtherapeut, da ich Sammy seit seiner Geburt 1997 habe. Seitdem sind wir einfach unzertrennlich, und er weiß, wann es mir mal nicht gut geht. Wenn ich dann mal im Rollstuhl sitze, weil ich nicht so weit laufen kann und dennoch versuche, die Tiere allein zu versorgen, klaut er mir oft den Rollstuhl und stellt ihn auf die andere Seite von seinem Offenstall. Dann stehe ich da und denke mir: „Toll Sam, wie soll ich da nun hin kommen? So viel Gleichgewicht und Kraft habe ich doch gar nicht!“ Doch Sam kommt dann zu mir, stellt sich neben mich, so dass ich den Arm über ihn legen kann und geht mit mir ganz langsam zum Rollstuhl.
Das Reiten an sich ist für „MS“-Patienten eine sehr gute Therapie, da das Pferd das einzige Tier ist, welches denselben Schritt hat wie der Mensch. Damit werden alle Nerven und Muskeln angeregt, zu arbeiten, und ich kann danach immer besser laufen!
Derzeit mache ich mein Fahrabzeichen fürs Kutsche-Fahren und werde bald mit Bobo die Sauerländer Wälder mit der Kutsche unsicher machen. Elsa ist meine kleine Schmusebacke, mit ihr und meinem Hund Finnja gehe ich einfach oft spazieren. Dabei sind die Blicke oft auf unserer Seite, denn Elsa ist nicht wirklich viel größer als Finnja…
Aber nicht nur die Pferde und Wälder gehören zum wunderschönen Sauerland, auch die landwirtschaftlichen Betriebe. Auf einem Hof habe ich vor fünf Jahren eine Frühgeburt aufgepäppelt, von der niemand gedacht hat, dass sie überleben wird. Doch meine Lottiiiii zeigt mir nun, wofür das Kämpfen gut ist! Wenn ich dann mal einen schlechten Tag habe, gehe ich in den Kuhstall. Ich rufe dann „Lottiiiii“, und es gibt nichts Schöneres, als wenn die eigene Kuh, in die man am Anfang Tag und Nacht Kraft und Geduld reingesteckt hat, den Kopf hebt und zu einem kommt… Dann schmusen Lottiiiii und ich oft sehr lang!
Leider hat sich, seitdem ich die Diagnose habe, mein Freundeskreis sehr verändert, man lernt immer erst in solchen Momenten, wer ein wahrer Freund ist, und für wen du nur interessant bist, wenn du funktionierst. In diese Momenten hat mich meine wundervolle Familie immer aufgefangen! Generell bedeutet meine Familie alles für mich; egal was ist, sie unterstützen mich, helfen mir, oder wir machen einfach Quatsch. Denn der Spaß am Leben sollte niemals aufhören; auch in ernsten Situationen gehört eine gewisse Portion Humor und Spaß dazu 😉
In den vergangenen Jahren, in denen ich normal gearbeitet habe, hatte ich immer so zwischen drei bis sechs Schüben im Jahr, doch seitdem ich berentet bin, hat sich mein Körper so gut erholt, dass ich letztes Jahr nur einen Schub hatte. Der war zwar so schlimm, wie keiner zuvor, aber ein Schub ist definitiv besser als mehrere im Jahr.
Doch ich muss gestehen, der letzte Schub hat mich etwas wach gemacht und mir noch einmal mehr bewusst gemacht, wie wichtig es ist, jeden Tag in vollen Zügen zu leben und das Leben zu genießen! Denn ich konnte innerhalb von fünf Minuten nicht mehr sprechen, greifen und laufen. Meine Familie dachte, ich hätte einen Schlaganfall. Doch es war ein aktiver Entzündungsherd im Stammhirn. Nach einer Cortison-Stoßtherapie ging es mir dann wieder besser, aber es dauerte gut vier Wochen, bis alles wieder normal funktionierte.
Ich setze mir oft Ziele direkt nach einem Schub; irgendetwas, das ich unbedingt machen möchte. Nach dem letzten Schub war mein Ziel, zur „Warsteiner Internationalen Montgolfiade“ wieder fit zu sein und im Ballon das Sauerland zu überfahren, denn der Ballonsport gehört auch noch zu meinen Hobbys. Niemand weiß, was die Zukunft bringt, aber die „MS“ hat mich so stark gemacht, dass mich nichts mehr umhauen kann!
Deine Kraft, dein Offenheit hinterlassen mich sprachlos, liebe Maren! Ganz gewiss kannst du mit deiner Geschichte vielen Menschen Mut machen, mit Umständen positiv umzugehen, die ja doch nicht zu ändern sind… Danke!
Für weitere Einblicke in Marens Alltag mit der „MS“ und nähere Informationen zur „Multiples Sklerose“, klick doch mal hier:
https://www.instagram.com/marryluu91/
Einige der Fotos wurden mit freundlicher Unterstützung zur Verfügung gestellt von: Maren Hirschberg